Warum ich die Romantik-Epoche als Inspiration für die gegenwärtige Situation empfinde habe ich in dieser Ausgabe in 3 Thesen verdichtet. Zudem hat mich die Einstellung des bekannten Psychoanalytikers und Autors - Irvin D. Yalom - zum Thema 'Auszeit' fasziniert. Mehr lesen Sie in meinem #9 Letter of Inspiration. Viel Freude dabei.

Die Romantik heute

2021 wird rosa-rot und kitschig? Nicht ganz, denn die Romantik in ihrer ursprünglichen, klassischen Bedeutung hat nichts mit grossen roten Herzen und öffentlichen Heiratsanträgen zu tun. Die Romantik war im 19. Jahrhundert der künstlerische Aufschrei nach einem Ausbruch aus den Ketten der damaligen Standardisierung. Dies zeigte sich vor allem durch den Wunsch nach Individualität als Gegenentwurf zur herrschenden Industrialisierung. Spürbar wurde dieser Ausbruch durch reichlich Drama. In der bildenden Kunst etablierten sich als zentrale Motive das Schaurige, Unterbewusste, Fantastische, Leidenschaftliche, Individuelle, Gefühlvolle und Abenteuerliche, welche die Grenzen des Verstandes sprengen und erweitern sollten und sich gegen das bloße Nützlichkeitsdenken sowie die Industrialisierung richteten. Die intensive Nutzung von Farbe ist ein Symbol der romantischen Maler. Intensive und dramatische Sonnenaufgänge, fast zu schön, um wahr zu sein. Oder wie bei einem der bekanntesten Bilder dieser Epoche: Caspar David Friedrich und “Der Wanderer über dem Nebelmeer”. Damit dramatisierte er das Künstler-sein selbst. Das gequälte Genie, welches ganz oben am Gipfel und gleichwohl auch am Rande der Existenz steht. In diesem Werk symbolisiert durch einen Abgrund, der durch dicken Nebel ein Durchblicken verwehrt und dennoch im Weitblick Hoffnung suggeriert. In dieser Epoche entstehen Motive, die bis heute Sehnsüchte wecken. Nach einem besonderen Jahr wie 2020, das grundsätzliche Fragestellungen hervorbrachte und Bestehendes hinterfragen liess, werden gewisse Sehnsuchtsgedanken auch bei uns lauter. Man sehnt sich plötzlich nach dem Schönen, Echten, Tiefen wieder, etwas das einem Halt und Stabilität gibt.

Das "Ich" wird wichtig

Eine verstärkte Suche nach Bedeutung lässt sich seit Längerem als Trend, nicht nur bei der jüngeren Generation, feststellen. Bei Job-Interviews fragen Bewerber nach den Werten des Unternehmens und zeigen Interesse zu dessen sozialer und gesellschaftlicher Verantwortung. Denn heute steckt hinter einem Job vielmehr als ein Titel oder eine Rolle, die man mit Arbeitsantritt beginnt zu erfüllen. Es geht um eine klare Haltung und die muss zu den eigenen Überzeugungen passen. Im ersten Schritt setzt das Klarheit über sich selbst voraus und führt mittelfristig auch zu Abgrenzungs-Effekten, im beruflichen sowie im privaten Umfeld. Seinen Charakter ausleben schafft Grenzen, zieht jedoch ebenso Gleichgesinnte stärker an.

Der innere Ruf etwas sinnvolles zu tun zeigt sich auch in den der kontinuierlich steigenden Zahl der Firmenneugründungen. In der Schweiz waren es +5.3 % von 2019 auf 2020, wobei 2019 bereits als Rekordjahr galt. Es lässt sich eine Mentalität des Kreieren und Erschaffen beobachten. Ja, diese Werte machen eine Entwicklung zum „Eigenen“ deutlich. Ob das nun daran liegt, dass Unternehmen womöglich nicht die passenden Antworten auf die Sinn- und Bedeutungs-Frage haben, oder ob es daran liegt, dass der Wunsch nach dem Ausbruch aus dem klassischen Karriere-Rad grösser wird lässt sich nur vermuten. Feststeht, dass in den letzten Jahren in vielen Bereichen ein hoher Wert auf Standardisierung gelegt wurde, denn alles was standardisiert ist, bringt Skalierbarkeit. Oh ja, dieses wundervolle Wort. Skalierbarkeit. Die Fähigkeit des Systems oder Unternehmens zum Wachstum. Das sich hier eine gewisse Parallele zur beschriebenen Romantik-Epoche erkennen lässt, halte ich für eine spannende Erkenntnis. Somit überrascht auch nicht der Anstieg der Firmengründungen. Doch welche Gründe kann das haben? Drei Thesen:

1. Ausdruck der eigenen Individualität

Ein Ausbruch aus bestehenden Gedankenmuster, auch getrieben durch die Unsicherheit, die vor uns liegt. Die Fragestellung nach “Wie kann das, was ich tue, einen Unterschied machen und für wen?”, verdrängt die Frage nach Wachstum und mehr Geld. Der Fokus auf die eigenen Werte lässt einen auch genügsamer werden, denn es beantwortet die Frage, was man eigentlich wirklich braucht, sehr ehrlich. Es lässt sich ein Herausschälen des eigenen Charakter beobachten und das beginnt im kleiner werdenden Kleiderschrank sichtbar zu werden, oder im Ausmisten des Büro oder Wohnzimmers: Wir machen uns leichter, oder wir gewinnen an Profil.


2. Zeitalter der Künstler

Mit Ungewissheit und Unsicherheit umzugehen ist man im geschäftlichen Alltag kaum gewohnt gewesen. Unsere letzten Jahre waren doch mehr oder weniger planbar, denn die wirklich grossen Veränderungen hatten sich vielleicht angedeutet, aber (noch) nicht gezeigt. Es ging schon immer noch irgendwie. Nun gab es 2020 einen Verstärker und viele Branchen, somit auch Jobs, werden unsicher und vielleicht sogar in dieser Form nicht wieder zurückkommen. Bei Gesprächen mit befreundeten Künstlern hörte ich vermehrt fast scherzhaft: „Das ist nichts Neues für uns“. Künstler sind es gewohnt Unsicherheit auszuhalten, manchmal kann dieses Gefühl sogar ein Treiber für Kreation sein. Diese Einstellung lässt einen für 2021 gewappnet sein.


3. Der Wunsch verzaubert zu werden

Wir haben das Magische in unserem Miteinander und Tun verloren. Ich spreche bewusst von Magie, denn was einem die Standardisierung auch bringt, ist trockene und schonungslose Transparenz. Vieles ist vorhersehbar und dadurch ist uns der Zauber abhanden gekommen. Die Gabe einen magischen Moment zu kreieren, konnten wir soeben erst an Weihnachten in den Kinderaugen erleben. Die unbändige Vorfreude auf das, was das Christkind wohl bringen wird haben. Wie schaffen wir dieses Leuchten auch in unseren Augen wieder zu entzünden? Die Beantwortung dieser Frage wird für 2021 unser aller Hausaufgabe sein.


Was können diese Thesen für den Einzelnen bedeuten?

- Kreieren und zelebrieren individueller Gedanken

- Lernen unabhängig zu denken, ausserhalb bestehender Rahmen

- Die Kunst einen Kontext zu kreieren und zu kultivieren

Wie gelingt das? Mit Selbst-bewusstsein, im aller wörtlichsten Sinne.


Was mich kürzlich inspiriert hat: Die Kraft der Auszeit.

Die Biografie von Irvin D. Yalom, einem der wohl erfolgreichsten Psychoanalytikern unserer Zeit, sowie Autor von Bestsellern wie „Und Nietzsche weinte“, hat mich beim Lesen immer wieder überrascht. Eine wiederkehrende Beobachtung hat mich jedoch insbesondere fasziniert. Yalom, der 89 Jahre alt, verheiratet und Vater von 4 erwachsenen Kindern ist, hat neben der Selbstanalyse in dieser Biographie recht ausführlich dargestellt, was es braucht um etwas zu kreieren. Yalom, der Professor an der Stanford Universität war, hat jedes Mal, wenn er sich einem neuen Thema, wie seinem Lehrbuch zur Gruppentherapie, der existentiellen Psychotherapie, oder einem seiner zahlreichen Romanen widmete, eine Auszeiten von bis zu 6 Monaten von seinem Alltag genommen. In diesen Pausen ist Yalom mit seiner Frau Marilyn, die Professorin für französische Literatur war, verreist. Er hat mehrfach in seiner Biographie betont, wie wichtig dieser Tapetenwechsel für das Öffnen der eigenen Perspektive war. Von Yalom kann man sicher vieles lernen, jedoch diesen einfach wirkenden Punkt, kann man direkt adaptieren. Kreation braucht Raum und Zeit. Und dass das nicht nur auf Künstler zutrifft, sondern auch für Wissenschaftler und Unternehmer, zeigt Professor Yalom mit seinen unzähligen verkauften und in mehreren Sprachen übersetzten Büchern als inspirierendes Beispiel.

In eigener Sache...

Ich habe mich kürzlich sehr gefreut, als in der Zürcher Sonntagszeitung ein Artikel über “Die Bedeutung von Arbeit” von mir erschienen ist. Wenn Sie den Artikel verpasst haben, können Sie ihn hier online finden oder mir einfach eine E-Mail senden, um eine Kopie zu erhalten.

Schön, dass Sie sich für diese Episode des Letter of Inspiration interessiert haben! Sollten diese Gedanken für Freunde oder Kollegen interessant sein, leiten Sie diese Nachricht gerne weiter.