Die allgemeine Auseinandersetzung mit dem Alleinsein war wohl lange nicht mehr so präsent wie in den vergangenen Monaten. Kann das Aushalten von Einsamkeit gar etwas Positives haben und unseren Charakter stärken? Neben meinen Gedanken hierzu findest Du in der 10. Ausgabe des Letter of Inspiration auch einen aktuellen Beitrag aus der Handelszeitung, sowie ein Podcast Interview zu Intuition und Leadership. Viel Spass beim Lesen und Zuhören!

Einsamkeit

Alleinsein will gelernt sein. Das ist keine Floskel, sondern trifft auf jeden zu, der es schon einmal gewagt hat, alleine in den Urlaub zu fahren oder alleine in ein Restaurant zu gehen. Der erste Moment ist ungewohnt, es fühlt sich seltsam an, ja vielleicht sogar unnötig und falsch. Alles nachvollziehbar. Aber hat sich das erste Mal auf dem Fahrrad, ohne Stützräder mit dem Vater nebenher laufend, der langsam den Sattel loslässt, nicht auch seltsam angefühlt? Der Moment des alleine „Fliegens“ ist das, wovor wir Respekt haben. Gleichzeitig eröffnet dies auch eine neue Welt. Denn plötzlich sind wir, wie im Falle des Fahrradfahrens, flexibler, unabhängiger und kommen schneller von A nach B.

Das Momentum die Unsicherheit zu überwinden gleicht einem Software-Update. Nur mit dem Unterschied, dass wir uns, um das nächste Level zu erreichen, bewusst bewegen und nicht nur einen Button drücken müssen. Entwicklung passiert nicht einfach so, sondern wir sind gezwungen uns aktiv dafür zu entscheiden. Und dann ist da natürlich die Ablenkung: das Leben, mehr oder weniger angenehm, ganz gewiss jedoch gewohnt. Freunde, Kollegen, Familie, die bekannten Witze, Spass in der Routine der gesellschaftlichen Verpflichtungen und Freuden. Genuss, Konsum und Gemeinschaft haben etwas verführerisch Ablenkendes.

Ähnlich, wie das iOS Update, passt Alleinsein (die persönliche Entwicklung) nie in den Alltag. Keine Zeit für ein Back-up oder den PIN gerade nicht zur Hand. Es gibt unzählige Gründe auf “remind me later” zu klicken. Der eigentliche Treiber mag jedoch ein Ausweichen dieses kurzen Moments der Leere (Unsicherheit/nicht wissen was passiert) sein, der entsteht, wenn wir etwas ausserhalb unserer Routine tun.

Wenn man an die Momente denkt, die einen geprägt haben, kommen - zumindest mir - immer Erlebnisse in den Sinn, in denen ich auch etwas gewagt habe. Der Gang in ein Meeting, in dem ich den Ausgang bereits kenne oder der jährliche Familienurlaub in Italien - eher nicht. Der Glaube, dass wir nicht alleine sind, wenn wir mit vielen sind, ist ein Trugschluss, den wir uns gerne einreden. Fakt ist, dass wir Entscheidungen alleine treffen, immer und immer wieder. Wir tragen auch die Konsequenzen oder Früchte alleine - z.B. schneller von A nach B zukommen.

Bewusster Genuss

Arthur Schopenhauer, Deutscher Philosoph, hat das menschliche Dilemma bereits im 19. Jahrhundert auf den Punkt gebracht, als er den Mensch als Stachelschwein bezeichnet hat: ‘Kommen wir einander zu nahe, riskieren wir, uns zu verletzen, doch wenn wir zu grossen Abstand halten, riskieren wir Kälte und Einsamkeit.’

“So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft (...) die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stossen sie wieder voneinander ab. (...) Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben, noch zu empfangen.”

Könnte Einsamkeit nicht etwas Schönes sein? Den eigenen Gedanken frönen? Einem Dinner beiwohnen, bei dem man weder von Gesprächen noch einen ansprechenden Gegenüber abgelenkt wird, sondern es alleine - bewusst - mit allen Sinnen geniessen und erleben darf? Wie bei allem im Leben geht es auch hier um die Balance. Was ich aus diesem Gedanken mitnehme ist Balance entstehen zu lassen, in dem man wieder wagt. Wagt den Moment des Alleinseins zuzulassen und sinnlich zu geniessen. Es wird sich mit mehr Klarheit in unseren Geschäftsentscheidung auszahlen.

Was mich kürzlich inspiriert hat: Gerhard Richter - Landschaften.

Richter gilt als einer der bedeutendsten lebenden Künstler. In seiner Ausstellung Landschaften im Kunsthaus Zürich werden momentan Werke von 1963 bis 2018 gezeigt. Es ist bereichernd, was man für das tägliche Sein und Arbeiten von diesem Ausnahmekünstler lernen kann. Richter findet, wir haben ein zu perfektes Bild der Natur. Es ist weit mehr, als was die Kamera zeigt, es ist mehr, als was wir aussuchen und zeigen wollen. Es geht über den reinen, künstlich gewählten, Ausschnitt hinaus. Ebenso wie unser Leben. Es ist komplexer als manch einer sehen oder zeigen mag. Der Kreationsprozess für den Ausdruck der eigenen Realität funktioniert im Wechselspiel: Wie viel geht? Und wann ist es zu viel? Wir sind immer auf der Suche nach der passenden Balance. Wie stark kann eine Abstraktion einer Landschaften sein, um immer noch als Landschaft wahrgenommen zu werden? Welche Elemente eines Stadtbildes sind entscheidend, um die Stadt noch als solche zu erkennen?

Ein schönes Beispiel für ein Briefing- oder Mitarbeiter-Gespräch. Wie viel darf ich vorgeben, um am Ende nicht mit dem Anspruch meiner eigenen Perfektion konfrontiert zu werden und wie viel darf ich sagen, um am Ende einen sicheren Rahmen zur Entfaltung, sprich dem selbstständigen Arbeiten zu geben? Ein Beispiel aus Richters Ausstellung anbei.

Gerhard Richter, Stadtbild F, 1968

In eigener Sache...

Die Themen Einsamkeit und Haltung sind nicht nur in diesem Letter of Inspiration Leitplanken meiner Gedanken gewesen, sondern finden sich auch in meinem kürzlich veröffentlichten Beitrag in der Handelszeitung wieder.

Und zu guter Letzt empfehle ich für die nächste Auto- oder Zugfahrt dieses Podcast Interview. Jonathan Sierck, Initiator vonMorgen, stellte mir spannende Fragen zum Thema Intuition und was das mit Leadership zu tun hat. Auf Spotify oder Apple Podcast.

 

Ein Auszug:
„Es ist wichtig, dass wir Dinge nicht von externen Einflüssen heraus entscheiden, sondern uns wieder mehr auf uns selbst verlassen, und somit auch beweglicher Entscheidungen treffen können, die nicht abhängig, sondern stark aus uns selbst getrieben sind.“

– Tanja Schug in Gespräche vonMorgen – Episode 38